Mondkuss Kalender

10. Dezember

 

Der zweite Stich

Marina stolperte schwerbeladen durch die Tür in den Flur. Ihre Taschen verteilte sie auf dem Boden, aus der Einkaufstüte fiel ein Fertiggericht.

"Mist", fluchte sie laut.

Ein Abend wie andere Abende auch. Immer Hektik, immer Stress - selten Zeit.

Ihr Kater strich ihr vorwurfsvoll jammernd um die Beine und fuhr seine Krallen aus.

"Ja, ja, ich mach ja gleich was zu essen.", sprach sie zu ihm, während sie ihn sacht mit ihrem Fuß aus dem Weg schob.

Als sie in die Küche gehen wollte, bemerkte sie neben dem blinkenden Anrufbeantworter ein Päckchen und hielt inne. Das musste wohl ihre Haushälterin, vom Postboten entgegen genommen haben. Wer aber schickte ihr ein Päckchen? Sie hatte nichts bestellt und die Kuriere lieferten ihre Sendungen immer in der Kanzlei ab.

Sie nahm den kleinen Karton und setzte sich auf ihr Sofa, zündete sich hastig eine Zigarette an und öffnete fahrig das braune Packpapier.

Innen befand sich ein Brief, der auf etwas lag, das mit zart rosa Seidenpapier eingeschlagen war.

Für Marina stand dort in sauber gezeichneten Buchstaben.

Vorsichtig öffnete sie den Umschlag und während sie die Zeilen las, füllten sich ihre Augen mit Tränen.

"Mein liebes Kind,

lange schon haben wir uns nicht mehr gesehen. Ich hoffe, es geht dir gut und du bist glücklich. Oft denke ich an dich und unsere Zeit, als du noch ein kleines Mädchen mit geflochtenen Zöpfen warst.

Wie habe ich dein schelmisches Lächeln geliebt, wenn du mal wieder mehr Kekse in deinen Mund gesteckt hattest, als dort eigentlich Platz gehabt hätten.

Gestern nun dachte ich wieder einmal an deine vergangenen Streiche und kramte auf dem Boden unter den Stoffresten nach dem Teddybären, den ich dir damals nähen wollte.

Vielleicht erinnerst du dich noch daran. Er sollte ein Geschenk für dich zum Weihnachtsfest werden. Aber du hattest mich beim nähen überrascht und mir ganz entrüstet erklärt, dass du doch schon viel zu alt für Teddybären wärst.

Gestern Abend war ich nun wieder einmal allein.

Es ist oft schwer für mich, seitdem dein Vater nicht mehr bei uns ist. Und da wurde mir klar, dass man niemals zu alt für einen Gefährten und Tröster sein kann.

Ich wollte dir den Bären fertig nähen, damit er auf dich aufpasst und dir Wärme gibt, wenn du traurig bist. Doch leider sind meine Augen jetzt zu alt. Sie finden nicht mehr den Faden und wissen nicht mehr so recht, wohin ich die Stiche setzen soll. Deshalb schicke ich dir den Bären, die Knöpfe für die Augen und den Zwirn.

Du bist noch jung - und heute vielleicht nicht mehr zu alt für einen Freund.

In Liebe,
Deine Mama"

Zärtlich strich Marina über das Seidenpapier, welches unter den zarten Berührungen leise raschelte.

Dann griff sie entschlossen nach dem Karton, schlüpfte in ihren Mantel, nahm die Handtasche und schnappte sich den Kater.

Auf dem Weg zur Autobahn rief sie in ihrem Büro an und hinterließ die Nachricht, dass sie verreisen würde.

 

Geschenktipp


Surftipp

 

Kalender <<
(c) Damaris Wieser
>>Mondkuss